Der Schwarzbrot-Prinz

Der loyale Rau-Kronprinz Wolfgang Clement,
Superminister in NRW, ist eine stille,
aber feste Größe in den Kulissen der Macht

1996
von Tom Schimmeck 

Die beste Zeit ist lange her. Aber die Macht, die ist größer denn je. Ja, man ertappt sich dabei, daß man ihm auf die Finger schaut, um sich schnell mal zu vergewissern, daß es die üblichen zehn sind. 

Wolfgang Clement hat sie überall drin. Ob es um Fernsehkanäle, Autobahnen, um Braunkohle, Hightech oder die deutsch-deutsche Einigung geht – er ist gefragt. Sie nennen ihn „Superminister“, auch weil er diesen schönen langen Titel hat: Minister für Wirtschaft und Mittelstand, Technologie und Verkehr. Hinter ihm steht ein Apparat mit 1941 Leuten. 

Schon als Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei war der alerte Clement immer dran, wenn’s drückte: Die Stahlindustrie retten? Roma nach Mazedonien umsiedeln? Einen maroden Atommeiler abdrehen? Die Hauptstadt Berlin verhindern? Er war stets zur Stelle. Beim Bonn-Berlin-Kampf bewunderten ihn selbst Gegner für seine enorme Stabsarbeit. Obwohl er letztlich gescheitert ist. 

Ein Macher also. Und doch erinnert  sich Clement mit einem guten Schuß Wehmut an die Ära des Kanzlers Willy Brandt, als man noch richtig über Politik diskutierte, als er, ein frischgebackenes Parteimitglied, noch ein Stück Volk war. Damals, Anfang der 70er, herrschte Aufbruchsstimmung im Land. Es gab Geld in den Kassen und große Visionen in den Köpfen. Die SPD war eine fröhliche Reparaturkolonne des Kapitalismus. 

Die Studentenbewegung war an dem Rechtsreferendar und Journalisten spurlos vorbeigegangen. Brandt aber begeisterte ihn. An freien Sonntagen fuhr er los – zum Beispiel ins Sauerland –, um ängstlichen Menschen in verrauchten Wirtshäusern zu erklären, warum man mit dem bösen Osten jetzt reden muß. „Das war Programmatik, das war Perspektive“, schwärmt er nostalgisch. 

Wie sich die Zeiten ändern. Nun ist er selber ein großer Politiker. Aber die Wähler sind heute „wie Fließsand“, die Arbeit – er merkt es ja wenigstens – „schon sehr pragmatisch“. Realpolitiker seines Zuschnitts verwalten den Mangel, lindern die Krise, hangeln sich von Tag zu Tag. Clement muß Arbeit schaffen, unter „enormem Zeitdruck“, irgendwie: In NRW wurden in zehn Jahren 800 000 neue Arbeitsplätze geschaffen - doch allein im verarbeitenden Gewerbe wurden in den letzten drei Jahren 375 000 gestrichen. Das muß ihm keiner vorrechnen. Das kann er selber. 

Da mager noch so oft als mächtiger Weichensteller und Strippenzieher, als graue Eminenz und Troubleshooter abgemalt werden, letztlich läuft auch der Superminister im Hamsterrädchen. „Aber das Lamentieren nützt ja nichts“, sagt er, wenn ihn die Erkenntnis mal wieder überkommt. Überhaupt immer diese Vokabeln guter Pflichterfüllung: „vernünftigerweise“, „unweigerlich“, „zwangsläufig“, „notgedrungen“. 

Ohnmacht macht ihn nur noch emsiger. Aus dem Fond seines Dienst-Opels entfaltet er rege Geschäftigkeit. Clement überall: Beim Stahlrohrverband und der IG Bergbau, in der Thyssen-Villa, auf der Hightech-Messe, im Landtag, Kraftwerk, Parteivorstand, bei der Ordensverleihung, online im Internet. 

Immer schön Spagat machen. Clement klopft den Bergbau-Kumpels auf die Schultern und predigt zugleich Hightech. Seinen Bertelsmännern hat er bei den Ministerpräsidenten die Option auf 30 Prozent am Fernsehmarkt gesichert, wohl wissend, daß auch Leo Kirch sich sehr freut. „Ich addier da nur“, sagt er lakonisch, „besser zwei als einer.“ 

Das ist kein Mann, der von Träumen spricht. Der Staat, sagt der Minister, sei ein „Dienstleistungsunternehmen“. So reduziert sich Macht auf  wolkige Worte und ein paar handfeste Deals. „Ganz die Rau’sche Linie: Vertrauen statt Politik“, meckert ein linker Genosse. 

Er ist so sozialistisch wie ein Sack Kohlen. Er streichelt die Unternehmer und hält sie bei Laune, flößt ihnen Ideen ein und flüstert ihnen Mut zu. Er besorgt ihnen das Grundstück, fördert die Bauarbeiten und läßt den Autobahnanschluß legen. Dazu flötet er Heimatmelodien, um sie an den Standort zu binden – auf daß sie ihre Fertigungshalle nicht nach Osteuropa transplantieren, wo Malocher oft nur ein Zehntel kosten. Die Lohnnebenkosten, sagt er, „müssen um mindestens 30 Milliarden Mark runter“. 

Was bleibt ihm übrig? Das ist halt jene schnörkellose Backstein-Politik, die heute Realpolitik heißt. Visionen sind passé, Menscheln ist nur Zeitverschwendung. Deshalb ist nicht irgendein Weltverbesserer Wirtschaftsminister, sondern eben Wolfgang Clement, der effiziente Herr mit dem geraden Seitenscheitel. Der ist nüchtern, der fügt sich. Das ist ein fleißiger Schwarzbrot-Bäcker. Genau jener flexible Typ Sozi, vor dem uns die Jusos immer gewarnt haben. 

Ja, nickt er, er sei sicherlich konservativ, auch im privaten. Aber doch „von Kindesbeinen an Sozialdemokrat“. Eben „ein echter Kumpel“ aus dem Ruhrpott. Was das bedeutet? „Der ist gesprächsfähig“, sagt der Bochumer, „zäh, ein bißchen hemdsärmelig und sehr verläßlich“. 

Kein schillerndes Leben. Für diesen Minister arbeiten heißt schuften. Er gilt als energisch bis cholerisch. Frühmorgens joggt er eine halbe Stunde am Bonner Rheinufer, dann beginnt ein endloser Tag voller Konferenzen, Telefonate und Autofahrten. Aktenberge werden bezwungen und Aschenbecher gefüllt, bis er spätabends todmüde ins Bett kippt. 

Er ist sensibel genug zu registrieren, daß dieses Macher-Dasein, das keine Zeit läßt zum Lesen und Nachdenken - oder zum Leben, „eine Reduzierung ist“. Er habe, findet Clement, „da erhebliche Schwächen“. Und ruft sich sogleich zur Ordnung: „Das Lamentieren nützt ja nichts.“ 

Eine treue Seele? Bevor er als SPD-Sprecher anheuerte, fragte er Johannes Rau um Rat, er „weiß heute eigentlich nicht mehr, warum“. Aber er erinnert den Schneematsch im winterlichen Wuppertal, als er zum ersten Rendezvous mit Rau anreiste: „Da haben wir uns kennengelernt.“ 

Die Zeit in der SPD-Baracke erinnert er als „trostlos“. Schließlich überwarf er sich mit dem lange bewunderten Willy Brandt – es war „mein schwierigster Bruch“, ein Loyalitätskonflikt zwischen zwei konträren Polit-Temperamenten: Als Brandt 1986 die Strategie des Kanzlerkandidaten Rau auf eine absolute Mehrheit bespöttelte, stand Clement zu Rau: „Die Elefanten konnten das nicht lösen, einer mußte weg. Da habe ich die Klamotten hingeworfen.“ 

Der pastorale, immer auf dem Mittelweg schreitende Landesvater sagte ihm weit mehr zu als der konfiktfreudige Brandt. Der habe, erzählt Clement, ihn einmal angeblafft, weil er einen Gift-Unfall bei Ciba-Geigy (??!) kurz nach der Chemie-Katastrophe im indischen Bophal (1984!) nicht zum Angriff genutzt hatte. Rau, sagt Clement entrüstet, „hätte mit so einem Unglück nie Politik gemacht“. 

Zwei Jahre nach dem Bonner Bruch holte ihn Rau endlich zu sich nach Düsseldorf. Sie geben dort ein sehr ungleiches Duo ab. Gegen den dauermenschelnden Rau wirkt Clement schroff und steif, ihm fehlt der Massenappeal. Wenn er überzeugen will, wird er manchmal schneidend scharf. Auf jenem SPD-Landesparteitag etwa, wo er den Genossen den rot-grünen Koalitionsvertrag verkaufen mußte. Als es zum kniffligen Punkt Braunkohleabbau in Garzweiler kam, brüllte er, bis der fürsorgliche Rau aufstand, um ihm das Mikrofon vom Munde wegzubiegen. 

Was an Aura fehlt, kompensiert er durch Fleiß und Geschick. Die rot-grüne Koalition ist sein Werk, er hat sie zusammengefummelt wie ein Faller-Häuschen. Natürlich nicht aus Begeisterung, sondern aus nackter Einsicht in die Notwendigkeit: „Man muß das tun, möglichst erfolgreich“. 

Auf grüner Seite war man angenehm überrascht: Statt dem kalten Technokraten erlebte man einen recht umgänglichen Kerl, der Witze riß. „Clement ist knallhart, aber verläßlich“, urteilt ein Mitverhandler. Der wäre, meint eine Grüne mokant, „ein guter Ministerpräsident für eine 38 bis 40-Prozent-SPD“. 

Ein Mann mit Zukunft? In Düsseldorf wird er derart notorisch als Kronprinz gehandelt, daß manche schon über eine „Prinz-Charles-Problematik“ witzeln. Die Nachfolgefrage sei ihm „inzwischen sch...egal“, beteuert Clement. Rau sei ja „wie geschaffen für dieses Gewerbe“. 

Das klingt ein bißchen abschätzig, aber er steht bereit. Der Rau-Zögling, bei Ochsentouristen lange als Seiteneinsteiger verschrien, konnte gar ein bißchen Hausmacht aufbauen. Die Kontrahenten scheinen aus dem Feld geschlagen: Finanzminister Heinz Schleußer hat abgewunken. Franz Müntefering rettet als Bundesgeschäftsführer die Partei. Der lärmende Fraktionschef Klaus Matthiesen ist vielen zu starker Tobak. 

Doch auch die NRW-SPD ist heute nichts mehr so vorhersehbar wie einst. Klaus Matthiesen konnte sich als Fraktionschef gegen die Mächtigsten etablieren. Nun buhlt er um den Vorsitz des SPD-Bezirks Westliches Westfalen. „Da werden“, weiß ein Insider „viele Gespräche geführt.“ 

Die alte Legende von den allmächtigen NRW-Sozis ist tot. Auf dem letzten Bundesparteitag boten sie ein Bild des Jammers. Rau, überrollt vom Geschehen, konnte Schützling Scharping nicht mehr retten. Das hat Clement „getroffen wie ein Schlag“. „Wir haben das Maul zu voll genommen“, bilanziert er. „Am Ende waren wir die Gesteuerten.“ 

Die Entscheidungen, sagt er gequält, „müssen nun produktiv gewendet werden“. Ein Clement kann auch bei Lafontaine viel werden. 

Und Lamentieren nützt ja nichts. 
 

    WOLFGANG CLEMENT wurde am 7. Juli 1940 als Sohn eines Baumeisters in Bochum geboren. 1985 machte er sein Erstes juristisches Staatsexamen in Münster und arbeitete als Gerichtsreferendar. 1968 kehrte er zur „Westfälischen Rundschau“ nach Dortmund zurück, wo er vor dem Studium als Volontär angefangen hatte und stieg zum stellvertretenden Chefredakteur auf. Von 1981-86 fungierte Clement, seit 1970 SPD-Mitglied, als Sprecher des Parteivorstandes, ab 1985 zugleich als stellvertretender Bundesgeschäftsführer der SPD. Nach Konflikten mit Willy Brandt kündigte er den Doppeljob in der Bonner Baracke und ging zwei Jahre lang als Chefredakteur zur Hamburger Morgenpost. 1989 machte ihn Johannes Rau zum Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei, seit 1990 im Rang eines Ministers. 1993 wurde Clement auch Landtagsabgeordneter.  Seit Juli 1995 ist er „Superminister“ für Wirtschaft, Mittelstand, Technologie, Verkehr und Medien, daneben seit November auch Mitglied des SPD-Bundesvorstandes. Clement lebt in Bonn, ist katholisch, verheiratet und hat fünf Töchter.

© Schimmeck