Knochenpuzzle nach dem
schmutzigen Krieg

Argentinien sucht nach den Opfern der Militärs. Doch dem gelifteten Herrscher Carlos Menem paßt dies nicht in die Show

1995 
von Tom Schimmeck 

Meist sind nur ein paar Knochen übrig. Oft ist unklar, zu welchem Menschen sie gehörten. „Hier ist eine Generation verschwunden“, meint Luis Fonderbrider, „bislang gab es keinen seriösen Versuch, dies aufzuarbeiten.“ Er gehört zu einer Gruppe forensischer Anthropologen, die seit elf Jahren in Argentiniens Massengräbern wühlt. Eine Arbeit gegen das Vergessen. 

Fonderbrider war 20, als er anfing, diesen skurrilen Beruf zu erlernen. Ein Student, der Freunde vermißte. Freunde, die verschwunden waren oder, wie es im argentinischen Sprachgebrauch heißt: „verschwunden worden waren“. Eine Umschreibung für: abgeknallt und in Massengräbern verscharrt, in Fässern einzementiert und im Rio de la Plata versenkt, betäubt und aus Flugzeugen in den Atlantik geworfen. 

Es ist ein perverses Puzzlespiel. Aber zugleich, sagt Fonderbrider, „eine konkrete Möglichkeit, etwas zu tun“. Aus den rund 300 Gefangenenlagern der Militärdiktatur verschwanden mindestens 10 000, vielleicht 30 000 Menschen. Der Student und seine Kollegen begannen – unter Anleitung von Experten–, Gräber ausfindig zu machen und Zentimeter um Zentimeter, Knochen für Knochen auszuheben, penibel wie Archäologen. Sie verglichen Akten der Lager mit den Aufzeichnungen der Friedhöfe, interviewten Angehörige und überlebende Mitgefangene, um mehr Informationen zu bekommen: Zahnbehandlungen? Alte Knochenbrüche? Verletzungen durch Schläge und Folter? Wer wurde wann und wo zuletzt gesehen? 

Die Anthropologen-Gruppe hat bis heute 500 Ausgrabungen gemacht, 4000 Fotos von Verschwundenen gesammelt, massenhaft Daten im Computer archiviert. Warum die Mühe? „Wir wachsen in einer sehr kranken Gesellschaft auf“, sagt Luis Fonderbrider. „Die Täter sind frei. Und sie bedauern nicht nur nichts, sie sind sogar stolz.“ 

Die offene Wunde Argentiniens. Die Militärdiktatur währte von 1976 bis 1983. Sie führte einen „schmutzigen Krieg“ –  vorgeblich gegen eine linke Guerilla, tatsächlich vor allem gegen einen aufgeklärten, kritischen Mittelstand, der im Wege war. Es war, gestand vergangene Woche Argentiniens Armeekommandant, General Marin Balza, eine „dunkle, fast unerklärliche Epoche“. 

Als die Militärherrschaft – mit dem Scheitern des bizarren Falkland-Abenteuers – zu Ende ging, wurde immerhin versucht, die Untaten aufzuarbeiten. Eine Kommission dokumentierte die Verbrechen. Neun Mitglieder der Junta wurden vor Gericht mit nahezu 800 Zeugen konfrontiert. General Jorge Videla und Admiral Emilio Massera bekamen lebenslänglich. Die Liste der Straftaten war lang: Mord, Entführung, Folter, schwerer Raub, Fälschung von Dokumenten, Erpressung, Entführung Minderjähriger und mehr. 

Dann sollten 2000 Offiziere vor Gericht, doch die Militärs rasselten mit den Säbeln. Präsident Raúl Alfonsín schuf hastig ein Gesetz, das Untaten auf Befehl straffrei stellte. Die Republik knickte ein. Bald kam ein zweites hinzu, das „Schlußpunkt-Gesetz“. Schließlich, 1990, begnadigte Alfonsíns Nachfolger, Carlos Menem, die verurteilten Putschisten. 

Manchmal sind gar keine Spuren zu finden, nicht einmal Knochen. Und trotzdem gibt es Zeugen. 

Horacio Verbitzky, Chef der Tageszeitung „Pagina 12“, wird im Dezember 1994 an einem U-Bahn-Ausgang angesprochen. Zunächst hält er den Mann für den Angehörigen eines Opfers. Doch er entpuppt sich als Täter: Korvettenkapitän Adolfo Francisco Scilingo. 

Ursprünglich, sagt Scilingo, habe er nur zwei Marine-Kameraden helfen wollen, die aufgrund ihrer Vergangenheit als Folterer nicht befördert worden waren – obwohl Präsident Menem dies ausdrücklich gewünscht hatte. 

In langen Gesprächen gibt Scilingo ein Stück seines Geheimnisses preis: Er hat in der ESMA, der Mechanikerschule der Marine in Buenos Aires, gearbeitet, zu Zeiten der Junta ein berüchtigtes Folterzentrum. Zweimal bekam er den Befehl, Gefangene zu transportieren. Sie wurden zum Flughafen gebracht und dort unter dem Vorwand einer Impfung narkotisiert. Im Flugzeug wurden sie erneut betäubt, entkleidet und in den Atlantik geworfen. Zwei Jahre lang sollen jeden Mittwoch Flüge mit 15 bis 20 Gefangenen gestartet sein. Macht 1500 bis 2000 Ermordete. 

Während Scilingo die schlafenden Opfer ins Meer warf, verschwand der Arzt, der die Spritzen gab, im Cockpit, um mit seinem Hippokrates ins reine zu kommen. Nach dem Flug spendete der Militärkaplan Trost: „Er sagte, es sei ein christlicher Tod, weil sie nicht leiden. Daß Krieg Krieg sei und auch die Bibel sage, daß die Spreu vom Weizen getrennt werden muß.“ 

Argentiniens Öffentlichkeit reagierte schockiert: Erstmals hatte ein Ex-Soldat gestanden, Gefangene eigenhändig ermordet zu haben. Prompt wurden Zweifel an seiner Aussage laut. Scilingo, befand der Präsident, sei ein „Schurke“. 

Das neue Problembewußtsein paßt nicht in Menems populistische Show. Zwar hat er einst selbst im Gefängnis gesessen. Doch heute inszeniert er sich als Star – ein gelifteter Sportsmann, der mit Alain Delon frühstückt und sich mit Claudia Schiffer und allerlei Jet-set schmückt. Nur keine schweren Themen. Mit seinem Volk kommuniziert Menem über die Klatschpresse und das kunterbunte Privat-TV. Er will am 14. Mai wiedergewählt werden. Das ganze Vergangenheits-Gerede stört da nur. Die 

Militärs, zürnt Menem, sollten beichten gehen, anstatt Salz in alte Wunden zu reiben. 

Wer damals wissen wollte, was geschah, der wußte es. Doch das Gros der Gesellschaft zog es vor wegzugucken. Die Mütter und Großmütter auf der Plaza de Mayo, die Woche für Woche nach dem Verbleib ihrer Kinder und Enkel fragten, wurden für verrückt erklärt. „Por algo sera“, beruhigten die Leute sich – ihre Hartnäckigkeit wird schon einen Grund haben. 

Nun eitern die schmutzigen Wunden. Scilingos Geständnis setzt nicht nur das Militär unter Druck, auch seine Mitläufer, Nutznießer, Komplizen – die Ärzte und Priester, die Richter und Journalisten, die geschwiegen, kollaboriert, profitiert haben, stehen jetzt im Rampenlicht. „Eine neue Generation ist im Kommen“, glaubt Journalist Verbitsky, „die Söhne quetschen ihre Väter aus.“ Argentinien, so scheint es, will es jetzt wissen. 

Besonders bedrängt zeigt sich die katholische Kirche. Sie windet sich in Widersprüchen. Einige Bischöfe halfen den Verfolgten, mancher Priester bezahlte sein Engagement mit dem Leben. Doch die Kirchenführer blieben zahm, beließen es bei mahnenden Worten. Der päpstliche Nuntius spielte mit Junta-Admiral Massera Tennis. Bischof Justo Laguna, der oft mit den Militärs verhandelte, räumt heute ein, daß dies völlig sinnlos war: „Die haben gebeichtet, aber nie verstanden, was Moral ist.“ Die Generäle seien fanatisch gewesen „wie bei einem Kreuzzug“. 

Das schmucke weiße Gebäude der ESMA, der Escuela de Mecánica de la Armada, liegt an der Avenida de Libertador, einer großen Hauptstraße von Buenos Aires. Den schmiedeeisernen Zaun schmücken kleine Schiffchen mit geblähten Segeln. Rund um das große, picobello gepflegte Areal sind starke Scheinwerfer montiert. Hunde bellen, Soldaten blicken mißtrauisch durch die Schießscharten der Wachtürme. Eine Tafel warnt: Zona Militar. 

Wieviel Wahrheiten sind hier noch verborgen? Miguel Angel Lauletta, ein Ex-Guerilla, der, von den Militärs umgedreht, im Folterkeller der ESMA arbeitete, sagt aus, sämtliche Unterlagen seien auf Mikrofilm konserviert worden. Für das Leben seiner Familie verriet er Kampfgefährten. Lauletta, meint der Journalist David Cox, der ihn lange interviewte, „ist das Produkt einer entgleisten, verrückt gewordenen Gesellschaft, die an den Grundlagen der Humanität gescheitert ist. Sie hat keine Helden produziert, sondern Monster.“ 

Bis heute wissen viele Argentinier nicht, was mit ihren Kindern, Eltern, Freunden geschehen ist. Wo die Kinder geblieben sind, die sie den ermordeten Müttern abnahmen. Keiner hat die Militärs zwingen können, Folter und Mord aufzuklären, die Schränke zu öffnen, die Listen, Filme, Fotos der Opfer herauszugeben. 

Warum gibt es nicht mehr Aussagewillige? „Das Militär“, sagt der Menschenrechtsaktivist Emilio Mignone, „hat möglichst viele mit hineingezogen, um ihr Schweigen zu gewährleisten. So ist eine große finstere Bruderschaft entstanden.“ 

 „Vielleicht bekommen wir noch einmal einen Militär auf die Anklagebank“, hofft Rosa Roisinblit, eine der „Großmütter von der Plaza de Mayo“. Sie haben bislang 56 zwangsadoptierte Kinder von Verschwundenen aufgespürt, die mit gefälschter Identität aufwuchsen. Hunderte werden noch gesucht. „Wir wissen nicht, ob diese Teenager zu ihren Verwandten zurückkehren wollen“, sagt Frau Roisinblit, „aber sie haben ein Recht, die Wahrheit zu erfahren.“ 

Und all die Leichen? Lohnt der enorme Aufwand, sie zu finden, zu identifizieren, zu bestatten? „Für die Angehörigen“, sagt der Forensiker Fonderbrider, „ist das zunächst immer ein schrecklicher Moment. Aber dann können sie weiterleben. Sie haben ein Grab, sie können Blumen daraufstellen. Es geht ihnen besser.“ 

© Schimmeck