TOM SCHIMMECKs ARCHIV
2008

Mathe ist Mädchensache

Einst wiegte sich der Mann in dem Glauben, das größere = bessere Hirn zu haben. Inzwischen häufen sich auch oberhalb der Nase die Hinweise auf maskuline Defizite.

von Tom Schimmeck

W
enden wir uns der Mutter aller Fragen zu: Wie steht es um das Verhältnis von Mann und Frau? Die Wahrheiten sind im Fluss. Oder, aus männlicher Sicht gesprochen: in freiem Fall. Was gilt noch? Dass Männer im Schnitt 10 Prozent größer, 20 Prozent schwerer und 30 Prozent stärker sind als Frauen. Immerhin. Abseits der reinen Physis aber häufen sich die Fragezeichen. Verhalten? Da ist der Mann, mehr noch der Knabe, ja längst als Störfall ausgemacht. Und der Geist? O je.

Ja, Männerhirne sind größer. Aber: Frauenhirne haben mehr graue Zellen. Die Nervenzellen sind dichter gepackt. Der Blutfluss ist etwa 15 mal stärker, der für Sprache verantwortliche Teil des Cortex 29 Prozent ausgeprägter. Bislang klammerte Mann sich an die These: Gewiss, die Mädchen lesen besser; kommen überhaupt mit Sprachen irgendwie besser zurecht. Aber Jungs können einfach besser rechnen. Es gab mal eine amerikanische Barbie-Puppe, die sagen konnte: Math class is tough! - Mathe ist schwer. Auch diese Gewissheit wankt nun.

Vergleichende Forschung ist sehr populär, seit man in agierende Gehirne hineinschauen kann – dank funktioneller Magnetresonanz-Tomographie (FMRT) und Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Nichts tut der Wissenschaftler lieber. Jungs in die Maschine, Mädchen in die Maschine. Und dann tüchtig Sinne stimulieren, Aufgaben stellen, Stress auslösen. Kommt immer etwas Hübsches bei heraus. Doch: Kaum steht eine These, fällt sie auch schon wieder. Die letzte männliche Rettungssatz lautete: Wir haben mehr weißes Material, können deshalb besser fokussieren, Irrelevantes ausblenden, haben einen besseren Orientierungssinn. Männer, so heiß es, gucken zur Sonne und sagen: Nach Südwesten! Frauen nehmen sich lieber Orientierungspunkte, sagen: Hinter der Kirche links! Tatsächlich? Da war zum Beispiel das Experiment des Dr. New, der Männer und Frauen auf einem Markt, den sie alle nicht kannten, zu bestimmten Ständen führte, sie auch naschen ließ. Und die Probanden sodann versammelte und fragte, wo was zu finden ist. Ergebnis: Die Frauen waren beim Zeigen im Schnitt um 9 Grad akkurater als die Männer. Wobei die Männer durchweg überzeugt waren, ihr Orientierungssinn sei der bessere. Interessant auch: Die Qualität der weiblichen Ortsangaben stieg mit dem Nährwert der zu lokalisierenden Nahrungsmittel.

Unterschiede? Jede Menge. Forscher aus den USA und Israel machten sich über die Hirne von je 31 Mädchen und Jungs im Alter zwischen 9 und 15 her, mit FMRT. Die Aufgaben kamen visuell – per Text – oder akustisch. Ergebnis: Bei Mädchen waren die Sprachregionen durchweg deutlich aktiver. Bei Jungs hing der Lösungserfolg von der Aktivierung des visuellen oder auditiven Sektors ab. Möglicherweise, überlegte ein Forscher, sei da eine Art Flaschenhals im Hirn der Jungs, der verhindere, dass Gesehenes und Gehörtes ohne weiteres ins Sprachzentrum vordringe. Schlussfolgerung: Mädchen denken abstrakter. Spekulation: Jungen begreifen auf einer höheren Abstraktionsebene weniger, sind dafür aber flotter mit den Sinnen – also etwa subito gewarnt und auf dem Sprung, wenn sie den Löwen brüllen hören. Auch das Hirn hat sich ja evolutionsbiologisch über Jahrtausende geformt. Heißt das nun: Der Männerkopf ist ein Steinzeitmodell, das dringend mal ein Update bräuchte? Fragen über Fragen.

Trotz all der hübschen Hirnbilder landet man am Ende wieder beim alten Streit: Was ist überhaupt Intelligenz, was bedingt sie – Gene, Gesellschaft, Geschlecht? Mit jeder kleinen Antwort fangen die Hirngucker sich zehn neue Großprobleme ein. Ein hübsches Beispiel, abseits der Geschlechter: Auf der Suche nach einem physischen Quell des Glaubens spannten Forscher buddhistische Mönche und Karmeliter-Nonnen in ihre Geräte. Sie sahen viele bunte Phänomene. Und waren hernach kaum schlauer als vorher. Es kommt wohl ganz drauf an, was man aus seinen 100 Milliarden Nervenzellen da oben macht.

Aber was ist nun mit den Mädchen und dem Rechnen? Ein kalifornischer Neurologe ließ Studenten beiderlei Geschlechts unterm PET-Scanner rechnen. Sie schienen ähnlich begabt. Der Unterschied zeigte sich im Detail: Bei den guten Jungs agierte der Schläfenlappen gar heftig, die guten Mädchen nutzten ihr Hirn deutlich effektiver. Längst weiß man auch – ohne jeden Scan – dass Mädchen oft besser in Mathe sind, sobald keine Jungs in der Klasse herumhängen. Ende Mai erschien nun eine europäisch-amerikanische Großstudie in „Science“: Die Wissenschaftler hatten PISA-Ergebnisse von 276 000 15jährigen Kindern aus 40 Ländern mit einer Fülle anderer Daten verglichen. Und siehe da: Wo Frauen gleichberechtigter sind, verschwindet der Mathe-Unterschied nahezu. In der Türkei, Südkorea und Italien ist der Jungen-Vorsprung noch klar, über 20 Prozent. In Norwegen und Schweden aber kaum mehr sichtbar. In Island sind die Mädchen sogar besser in Mathe. Zugleich –  schon wieder deprimierend für die Jungs –  steigert sich der Mädchen-Vorsprung beim Lesen noch deutlich. In der Türkei sind sie auf diesem Feld schon etwa 25 Prozent voraus, in Island gar über 50 Prozent. Der ökonomische Unterschied, sagen die Forscher, spiele hier kaum eine Rolle: Entscheidend sei die soziale Stellung der Frau. „In Ländern, wo Männer und Frauen Zugang zu ähnlichen Ressourcen und Möglichkeiten haben“, resümiert Kellogg-Professor Paola Sapienza, „existiert der Unterschied nicht.“

Bleibt nur eine alte Wahrheit übrig, klinisch getestet: Frauen mögen Rosa lieber als Männer.


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